Reich gedeckter Esstisch: Der EU-Binnenmarkt hat die Vielfalt an Lebensmitteln erhöht.

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Lebensmittel

„Der EU-Binnenmarkt ist ein Erfolgsfaktor“

Heuer jährt sich der EU-Beitritt Österreichs zum 25. Mal. Welche Chancen und Heraus­forderungen brachte der Binnenmarkt? Katharina Koßdorff und Josef Domschitz vom Fachverband der Lebensmittel­industrie im Interview.

Frau Mag. Koßdorff, am 1. Jänner 1995 trat Österreich der EU bei. Wie war die Lage beim EU-Beitritt und wie ist sie jetzt?

Katharina Koßdorff: Der EU-Binnenmarkt ist ein zentraler Erfolgsfaktor für die Lebensmittelindustrie. Er hat den österreichischen Lebensmittelherstellern internationale Absatzmärkte eröffnet und ist ein Jobmotor und Wachstumstreiber für die Produktion im Inland. Dabei gestaltete sich der Eintritt für viele Unternehmen schwierig. Denn zu diesem Zeitpunkt war die heimische Agrar- und Lebensmittelwirtschaft international noch nicht sehr wettbewerbsfähig. Bis zum EU-Beitritt waren viele Bereiche der Lebensmittelherstellung in Österreich ja staatlich hoch reguliert.

Josef Domschitz: Der heimische Markt war – mit wenigen Ausnahmen wie Süßwaren oder alkoholfreien Erfrischungsgetränken – abgeschottet. Weder Export noch Import waren einfach möglich, es gab hohe Ausfuhr- und Einfuhrzölle und festgelegte Einfuhrkontingente. Da es keine Alternativen gab, waren die Unternehmen und ihre Produktionsstrukturen auf den österreichischen Heimmarkt ausgerichtet. Einige konnten dem Wettbewerbsdruck nach dem EU-Beitritt dann auch nicht standhalten und mussten ihre Standorte in Österreich schließen.

Der EU-Binnenmarkt ist heute ein zentraler Erfolgsfaktor für unsere Branche. Er hat den österreichischen Lebensmittelherstellern internationale Absatzmärkte eröffnet und ist ein Jobmotor und Wachstumstreiber für die Lebensmittelproduktion im Inland.

Die Geschäftsführerin des Fachverbands der Lebensmittelindustrie Katharina Koßdorff im Porträt.

Mag. Katharina Koßdorff, Geschäftsführerin des Fachverbands der Lebensmittelindustrie in Österreich

Aber im Gegenzug gibt es auch viele Unternehmen, die es geschafft haben und heute vom EU-Binnenmarkt profitieren?

Koßdorff: Für die überwiegende Zahl der Unternehmen war die Öffnung der Grenzen zur Europäischen Union eine große Chance, die sie nutzen konnten. Zudem bewirkte der EU-Beitritt einen Professionalisierungsschub für die gesamte Agrar- und Lebensmittelwirtschaft. Das hat uns dorthin gebracht, wo wir jetzt stehen: Die Lebensmittelindustrie gehört zu den Top-Exportbranchen Österreichs und ist der größte Produktionssektor und Arbeitgeber in Europa. Unsere Wirtschaft leistet einen guten Beitrag zum EU-Binnenmarkt und dieser hat uns Wohlstand gebracht.

Welche Chancen ergaben sich aus Ihrer Sicht durch den EU-Binnenmarkt? Wie profitieren die Verbraucherinnen und Verbraucher davon? Und welche Vorteile haben die Lebensmittelhersteller?

Koßdorff: Die Regale sind bunter bestückt und die Produktvielfalt ist gewachsen. Vieles, was man früher nur aus dem Urlaub kannte, gibt es nun im Supermarkt. Dazu kommt, dass viele Lebensmittel für die Konsumentinnen und Konsumenten preislich günstiger geworden sind. Um ein paar Beispiele zu nennen: Ein Jahr nach dem EU-Beitritt waren Produkte wie Weizenmehl um rund 30 Prozent günstiger, Käse wie Gouda und Emmentaler oder Teigwaren um rund 15 bis 17 Prozent. Denn mit dem Zugang zum EU-Binnenmarkt fielen die hohen, gegenseitigen Importschranken weg und es gab mehr Wettbewerb.

Domschitz: Für die Lebensmittelhersteller haben sich mit dem EU-Beitritt und später mit der EU-Osterweiterung interessante Märkte eröffnet. In weiterer Folge konnten wir auch die Exportfördersysteme gegenüber Drittstaaten (konkret: Ausfuhrerstattungsverfahren) nutzen. Man hört ja immer, dass Österreich ein Nettozahler in der EU ist, dass wir also mehr zum Budget beitragen, als wir an Förderungen bekommen. Das gilt es auch einmal zu relativieren: Die Agrar- und Lebensmittelwirtschaft hat von den Fördermöglichkeiten – sei es für den Export, sei es für Agrarförderungen – auch stark profitiert.

Für die Lebensmittelhersteller haben sich mit dem EU-Beitritt und später mit der EU-Osterweiterung interessante Märkte eröffnet. In weiterer Folge konnten wir auch die Exportfördersysteme gegenüber Drittstaaten nutzen.

Josef Domschitz, stellvertretender Geschäftsführer des Fachverbands der Lebensmittelindustrie in Österreich

Welche Folgen hatte die europaweite Vereinheitlichung des Lebensmittelrechts? Welche rechtlichen Meilensteine gab es?

Koßdorff: Der rechtliche Rahmen für die Lebensmittelherstellung in Österreich war gut ausgestaltet. Durch den EU-Beitritt wurde dieser weiter ausgebaut, insbesondere im Hinblick auf Konsumentenschutz und Lebensmittelsicherheit. Das Kennzeichnungsrecht ist bereits seit den 1970er-Jahren auf europäischer Ebene geregelt. Damit Waren im Binnenmarkt ohne Hemmnisse zirkulieren können, sind einheitliche Spielregeln wichtig.

In den letzten Jahrzehnten wurden auch Institutionen wie die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) geschaffen. Sie nimmt Risikobewertungen vor. Das europäische Lebensmittelrecht wird permanent an neue Herausforderungen und Bedürfnisse von Konsumentinnen und Konsumenten angepasst. Als nächstes steht die Umsetzung des European Green Deal an.

Wie wirkte sich der Binnenmarkt auf die österreichischen und europäischen Agrar- und Lebensmittelexporte aus?

Koßdorff: Der EU-Binnenmarkt ist eine Erfolgsgeschichte für den Export von heimischen Lebensmitteln. Lag die Exportquote der österreichischen Lebensmittelindustrie vor dem EU-Beitritt bei 16 Prozent, so sind es heute weit über 60 Prozent. Zu den Exportschlagern zählen alkoholfreie Erfrischungsgetränke, Backwaren, Süßwaren, Käse, Wurst und Fleischerzeugnisse. Bricht man die Ausfuhrleistung auf die Einwohnerinnen und Einwohner herunter, so gehört Österreich bei Lebensmitteln zu den großen Exportnationen in Europa.

Domschitz: Seit dem EU-Beitritt hat sich der Wert der Lebensmittelexporte vervielfacht. Er belief sich 2019 auf 7,6 Millionen Euro – das entspricht einem Plus von fast 700 Prozent gegenüber 1995. Hauptabnehmer ist die Europäische Union: 70 Prozent der Lebensmittel werden in Mitgliedsländer ausgeführt, 30 Prozent in Drittstaaten. In der EU ist Deutschland für unsere Branche der wichtigste Markt, gefolgt von den USA, Italien, Ungarn und der Schweiz. Am stärksten konnten die Hersteller seit 1995 beim Export in Drittstaaten punkten: Hier sind die Exporte um fast 950 Prozent angestiegen. Möglich machten das internationale Handelsabkommen der EU.

Wie wirkt sich der Brexit auf die Handelsbeziehungen mit Großbritannien aus?

Domschitz: Derzeit deuten alle Zeichen auf einen Hard Brexit am 1. Jänner 2021 hin. Damit sind für unsere Branche viele Nachteile verbunden. Der Vorteil, den ich sehe, ist, dass Großbritannien zu einem Drittland der EU wird. Unsere Betriebe sind gut darin, Exportchancen in EU-Drittmärkten zu nutzen. Großbritannien ist für unsere Branche der viertwichtigste Exportmarkt in der EU. Und selbst wenn es Einfuhrzölle geben wird, so betreffen diese alle Importeure, nicht nur Österreich. Ich bin zuversichtlich, dass die österreichische Lebensmittelindustrie den Brexit mit ein paar Schrammen überstehen und an den bisherigen Erfolgen anknüpfen kann.

Welchen Herausforderungen sieht sich die Lebensmittelindustrie in Europa aktuell gegenüber?

Koßdorff: Einerseits beschäftigt uns die Bewältigung der Coronakrise. Andererseits macht uns die Tendenz zur Renationalisierung in der EU und in Österreich große Sorgen. Manche Mitgliedsstaaten – leider auch Österreich – beginnen, ihre Märkte wieder abzuschotten oder unternehmen Alleingänge bei der Regulierung oder Kennzeichnung von Lebensmitteln. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Die Renationalisierung ist Gift für die EU und auch für unser Land, sie begünstigt das Auseinanderbrechen des Binnenmarktes, der für unsere heimischen Lebensmittelhersteller so wichtig ist. Wir brauchen daher eine Politik, die für einen starken Binnenmarkt kämpft. Und wir brauchen offene Grenzen – denn die Grenzschließungen, die wir mit COVID-19 erlebt haben, sind schädlich für unser Land.

Domschitz: Dass es uns heute in Österreich so gut geht, hängt mit dem Wohlstand zusammen, den wir erwirtschaftet haben. Dieser ist großteils nur über unsere Exportleistung möglich. Wer jede handelspolitische Bemühung in Frage stellt und in der Bevölkerung Stimmung gegen EU-Handelsabkommen macht, tut dem Wertschöpfungsstandort Österreich und seiner starken Exportwirtschaft nichts Gutes. Ebenso wenig helfen uns nationale Überlegungen zu CO2-Steuern auf Agrarwaren und Lebensmittel. Wenn wir diese einfordern, werden das unsere Exportmärkte irgendwann auch zum Nachteil vieler Unternehmen in Österreich von uns einfordern. Daher brauchen wir Lösungen, die gleiche Spielregeln für alle Marktteilnehmer schaffen – auch für die österreichischen Hersteller. Die Handelspolitik muss fair und offen bleiben.

Die Renationalisierung ist Gift für die EU und auch für unser Land, sie begünstigt das Auseinanderbrechen des Binnenmarktes, der für unsere heimischen Lebensmittelhersteller so wichtig ist. Wir brauchen daher eine Politik, die für einen starken Binnenmarkt kämpft.

Die Geschäftsführerin des Fachverbands der Lebensmittelindustrie Katharina Koßdorff im Porträt.

Mag. Katharina Koßdorff, Geschäftsführerin des Fachverbands der Lebensmittelindustrie in Österreich

Was sind die drängenden Zukunftsthemen für den EU-Binnenmarkt?

Koßdorff: Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Gesundheit sind wesentliche Zukunftsthemen, zu denen auch die Lebensmittelindustrie ihren Beitrag leistet. Wichtig ist, dass zusammen mit der Branche konstruktive Lösungen erarbeitet werden, anstatt ihr von oben Belastungen aufzuerlegen. Denn solche Themen kann man nur gemeinsam angehen. Und dass man sie angehen muss, ist zweifelsfrei. Ein zentraler gesellschaftspolitischer Aspekt für die Zukunft ist die Ausbildung – etwa im Bereich Fachkräfte und Lehrlinge. Aber es geht auch weiterhin darum, Ernährungswissen in die Schulen zu bringen.

Wo sehen Sie den EU-Binnenmarkt in fünf Jahren? Welche Wünsche gibt es von Ihrer Seite?

Domschitz: Was ich mir am meisten wünsche, ist, dass der Export- und Produktionsstandort Österreich in der Europäischen Union weiterhin an Kraft gewinnt und nachhaltig abgesichert ist. Und dass wir die Steigerungsraten im Export trotz Coronakrise auch in den nächsten fünf Jahren fortsetzen können.

Koßdorff: Die Europäische Union ist aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs entstanden. Die EU war auch ein Friedensprojekt und sie hat uns Wohlstand gebracht. Das darf man gerade in einem Jubiläumsjahr nicht vergessen. Auch deshalb habe ich den dringenden Wunsch an die Politik, dass sie für diesen Binnenmarkt kämpft.

Über Katharina Koßdorff und Josef Domschitz

Mag. Katharina Koßdorff und Josef Domschitz leiten seit 2013 den Fachverband der Nahrungs- und Genussmittelindustrie (kurz: Fachverband der Lebensmittelindustrie) in Österreich. Der Verband vertritt die Interessen von mehr als 200 Lebensmittelherstellern mit 27.000 direkt Beschäftigten. Mehr: dielebensmittel.at.

  • Interview mit Mag. Katharina Koßdorff (Geschäftsführerin des Fachverbands der Lebensmittelindustrie) sowie Josef Domschitz (stellvertretender Geschäftsführer des Fachverbands der Lebensmittelindustrie) im September 2020
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