Ausgewogene Ernährung: Teller mit unterschiedlichen Lebensmitteln und Besteck.

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Essen wir heute anders als vor 25 Jahren?

Seit dem EU-Beitritt hat sich auch die Ernährung verändert: Unser Ess­ver­halten unterscheidet sich von der vorigen Genera­tion. Ein Überblick – von der Light-Welle über den Mega­trend Gesund­heit bis zum Kalorien­verbrauch damals und heute.

Vor 25 Jahren trat Österreich der EU bei, und das war bei weitem kein selbstverständliches Votum. Es war begleitet von Ängsten und Sorgen, auch und gerade was das Lebensmittelangebot betrifft. Wird die kulinarische Insel der Seligen von Importware überschwemmt? Gelingt der Übergang vom „flüchtigen“ zum „mündigen“ Verbraucher? Halten die Konsumentinnen und Konsumenten den österreichischen Produzenten die Treue?

Ernährung: Immer schon zu viel

Mitte der 1990er-Jahre steckte die Ernährungspyramide noch in den Kinderschuhen. Von den USA inspiriert, veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) ihre zehn Regeln für eine vollwertige Ernährung erstmals 1992 in Form einer Pyramide, die – mit ihren Adaptionen – bis zur Entwicklung einer österreichischen Ernährungspyramide (2010) auch bei uns Verwendung fand. Schon vor über 25 Jahren wurde dabei konstatiert: Die Menschen essen zu viel, zu fett, zu süß und sie trinken zu viel Alkohol. Mit lebensmittelbezogener Kommunikation sollte sich das ändern.

Genuss-Gesundheits-Paradoxon

Wirft man einen Blick in die Lebensmittel- und Ernährungsberichte von damals und heute, bestätigt sich, was der deutsche Ernährungspsychologe Volker Pudel auf den Punkt brachte: „Die Menschen essen wie früher und haben zusätzlich ein schlechtes Gewissen dabei.“ Das als Health-Pleasure-Paradoxon bezeichnete Phänomen (Biltekoff, 2010) war aber nicht neu. Dass überbordendes Gesundheitsbewusstsein auf Kosten des unbeschwerten Genusses gehen und vor allem bei Frauen zu einem restriktiven und schuldbeladenen Essverhalten führen kann, kündigte sich bereits in den ersten Jahren der Light-Welle an.

1995 fühlte sich in Großbritannien jede dritte Frau beim Konsum von Schokolade, Chips, Sahne, Soßen „schuldig“ (Steller, 1995). In Österreich haben etwa 68 Prozent stets ein schlechtes Gewissen, wenn sie genießen (Gruber, 2011). Denn entspricht das eigene Verhalten nicht den Empfehlungen, können schlechtes Gewissen oder Restriktion die Folge sein. Auch der „Zwang zu gesundem Essen“ mit den Hauptmotiven eines verbesserten Gesundheitszustands und geringeren Körpergewichts, die sogenannte Orthorexia nervosa, ist ein Kind der Neunziger (Bratman 1997).

Einkaufswagen mit Lebensmitteln: Die Lebensmittelindustrie sichert Österreichs Versorgung ab.

Einkaufskorb mit Gemüse: In den vergangenen Jahren entwickelten sich Ernährungstrends wie Vegetarismus. Foto: benjaminnolte / Adobe Stock

Gesundheit wurde zum Megatrend

Als Megatrend erlangte Gesundheit schließlich eine gesamtgesellschaftliche Aufwertung. Persönliche Haltungen und Ziele, Werte und Identität werden zunehmend mit dem Lebens- und Ess-Stil ausgedrückt, was vor allem in Bezug auf die Entwicklung von Ernährungstrends zu beobachten ist (Schröder 2016). Ob paleo, vegan, raw oder vegetarisch – ein Großteil der Menschen, die in ihrem Leben eine andere Ernährungsweise als die Mischkost probieren, kehren jedoch irgendwann im Laufe ihres Lebens zu eben jener zurück. 2018 deklarierten sich in Österreich 6 Prozent als Veganer oder Vegetarier. 16 Prozent essen immer öfter pflanzenbasiert, aber nicht ausschließlich (Flexitarier). Das ist also jene Gruppe, die der Empfehlung von maximal drei Portionen Fleisch pro Woche folgt.

Energieaufnahme ist nahezu konstant

Was hat sich aber bei der Nährstoffaufnahme geändert? Auf den ersten Blick nicht viel. Lag 1994 die tägliche Energieaufnahme laut dem Wiener Ernährungsbericht im Durchschnitt bei 2.020 Kilokalorien (kcal), so ist sie im Österreichischen Ernährungsbericht 2017 für Frauen mit im Durchschnitt 1.815 kcal ausgewiesen, für Männer mit 2.453 kcal. Bei den Energieträgern hat sich über die Jahre ebenso wenig getan: Den größten Teil machen immer noch Kohlenhydrate aus – früher 43, heute 45 Prozent der Energie (E%). Fett liegt konstant bei 36–37, Eiweiß bei 14–15 E%. Alkohol nahm 1994 noch 7 E% ein, heute sind es nur noch 3 E%.

Der Anteil der Personen mit Übergewicht und Adipositas ist laut den Österreichischen Ernährungsberichten von 1998 und 2017 wie folgt angestiegen: bei den Frauen von 21 auf 31 Prozent, bei den Männern von 41 auf 51 Prozent. Das scheint auch eine Folge der mangelnden Bewegung zu sein: Denn verglichen mit den Richtwerten für die durchschnittliche Energiezufuhr bei ausschließlich sitzender Tätigkeit mit wenig oder keiner anstrengenden Freizeitaktivität (Physical Activity Level [PAL] von 1,4) zeigt sich, dass jede und jeder Zweite die Referenzwerte für die Zufuhr von Energie überschreitet.

Jodversorgung ist nicht ausreichend

Die Versorgung mit kritischen Nährstoffen hat sich unterschiedlich entwickelt. Bei Vitamin D ist sowohl damals wie heute wesentlich, die endogene Synthese über Aufenthalte im Freien anzukurbeln. Über Lebensmittel alleine lässt sich keine angemessene Zufuhr bewerkstelligen. Die Versorgung mit Folsäure, Calcium und Eisen wurde deutlich besser, die Aufnahme entspricht jedoch immer noch nicht den Empfehlungen.

Bei Jod erreichen heute 87 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten die empfohlene Jodmenge nicht. In einem Binnenland wie Österreich ist jodiertes Salz ein wesentlicher Lieferant. Dass die Aufnahme rückläufig ist, lässt sich nicht nur mit der Verwendung von Himalayasalz & Co erklären. Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung hat auch in Deutschland eine zurückgehende Versorgung festgestellt. Den Daten einer Markterhebung der Universität Gießen aus dem Jahr 2019 zufolge kommt jodiertes Speisesalz in verarbeiteten Lebensmitteln weniger zum Einsatz als früher.

Mehr Milch, Gemüse und Obst – weniger Fleisch

Pickt man einzelne Lebensmittelgruppen heraus, ist einerseits über die mit Fragebogen erhobenen Daten ein Rückgang bei verzehrtem Fleisch und Fleischprodukten zu sehen – von durchschnittlich 170 Gramm pro Tag (g/d) auf 115 g/d. Dagegen stieg der angegebene Konsum von Milch und Milchprodukten von im Schnitt 150 auf 275 g/d, bei Gemüse und Hülsenfrüchten von 120 auf 210 und bei Obst von 95 auf 163 g/d.

Fette und Öle, Eier und Fisch sowie Kartoffeln und Getreideprodukte blieben dagegen relativ konstant. Bemerkenswert ist auch, dass heute etwa das Doppelte getrunken wird wie 1994 – etwa 2, 6 Liter pro Tag. Bier und Wein sind inkludiert, aber über die Zeit leicht rückläufig. Durchschnittswerte sagen freilich nicht viel über einzelne Ernährungsweisen aus. Der Geschmack folgt einer sozialen Logik und Frauen essen anders als Männer, aber das traf vor dem EU-Beitritt genauso zu wie heute.

Im Trend: Authentisch, clean, spirituell

Der heute gesellschaftlich akzentuierte Wunsch nach Authentizität, Regionalisierung, natürlicher Kost ohne Zusatzstoffe, mehr Bio-Produkten sowie die Spiritualisierung der Ernährung zeichneten sich schon Mitte der 1990er-Jahre ab. So ist in der Rückschau überraschend, mit welcher Präzision Matthias Horx 1994 den Weg dieser „Soft-Individualisierung“ beschrieb und wie sich das Bild mit den heutigen Themen überlappt. Sinkende Lebensmittelpreise, Interesse an weitreichenden Produktinformationen, situatives Snacken, mehr Convenience – auch das lag alles schon in der Luft (Döcker et al., 1994).

Freilich wird heute noch mehr „on the go“, zwischendurch und nebenbei gegessen. Die wichtigste Hauptmahlzeit hat sich Richtung Abend verschoben und der Außer-Haus-Konsum ist enorm angestiegen. All das galt zumindest bis vor kurzem. Im aktuellen Ausnahmezustand der Coronakrise aber wollen oder müssen viele wieder Struktur durch regelmäßige Mahlzeiten erlangen und sich mehr mit der Nahrungszubereitung auseinandersetzen.

Über Marlies Gruber

Dr. Marlies Gruber ist Geschäftsführerin sowie wissenschaftliche Leiterin des forum. ernährung heute. Sie hat die Chefredaktion der Zeitschrift „ernährung heute“ sowie der Online-Plattform forum-ernaehrung.at inne und ist Lektorin für Ernährungskommunikation an der FH St. Pölten. Die studierte Ernährungswissenschafterin publiziert regelmäßig in Fachmagazinen und ist Autorin von Fach-, Sach- und Kochbüchern, darunter „Mut zum Genuss. Warum das gute Leben gesund und glücklich macht“ (2015) und „Handbuch Ernährungskommunikation (2019, mit Angela Mörixbauer und Eva Derndorfer).

  • Agrarmarkt Austria Marketing: RollAMA – Gesamtjahr 2018. KeyQuest Mahlzeit-Monitor (2018)
  • Biltekoff, Charlotte: Consumer response: the paradoxes of food and health. In: Annals of the New York Academy of Sciences, 1190. Seite 174–178 (2010)
  • Bratman, Steven. Orthorexia Essay (von 1997). Auf: orthorexia.com (abgerufen am 28. September 2020)
  • Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Jodversorgung in Deutschland wieder rückläufig – Tipps für eine gute Jodversorgung. Aktualisierte Fragen und Antworten zur Jodversorgung und zur Jodmangelvorsorge des BfR. Vom 20. Februar 2020. Auf: bfr.bund.de (abgerufen am 28. September 2020)
  • Döcker, Ulrike und weitere Autoren: Fetter, Schwerer, Schneller, Mehr. Mythen und Fakten vom Essen und Trinken. Wien: IKUS Lectures 20+21 (1994)
  • Elmadfa, Ibrahim und weitere Autoren: 1. Wiener Ernährungsbericht 1994. Dokumentation des WHO-Projekts: „Wien – Gesunde Stadt“, Vol. 7.
  • Elmadfa. Ibrahim und weitere Autoren: Österreichischer Ernährungsbericht 1998. Herausgegeben vom Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Wien. Im Auftrag von: Bundesministerium für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz, Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (1998)
  • Gruber, Marlies: 20 Jahre Konsum und Ernährung – Gewohnheiten, Bedürfnisse und Wünsche der Konsumenten von gestern, heute und morgen. Präsentation bei 20 Jahre Roll-AMA: Megatrends im Food Bereich (5. März 2014)
  • Gruber, Marlies: Salutogenetische Aspekte des kulinarischen Genießens. In: E&M – Ernährung und Medizin. Ausgabe 26. Seite 115–119 (2011)
  • Pudel, Volker: 50 Jahre Ernährungsaufklärung. In: 50 Jahre DGE – Ernährungswissen im Wandel der Zeit. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. Seite 46–49 (2003)
  • Rust, Petra; Hasenegger, Verena; König, Jürgen: Österreichischer Ernährungsbericht 2017. Erstellt vom Department für Ernährungswissenschaften der Universität Wien, im Auftrag von: Bundesministerium für Gesundheit und Frauen.
  • Schröder, Thomas: So will ich sein! Warum gibt es gegenwärtig so viele Ernährungstrends? In: ernährung heute, Ausgabe 3. Seite 3–7 (2016)
  • Steller, Wilhelm: Europa der Regionen – Eßgewohnheiten unter der Lupe. In: ERNÄHRUNG/NUTRITION, Ausgabe 19. Seite 532–536 (1995)
  • Vejpustek, Heinz: Neue Warenwelt durch Soft-Individualismus. In: ERNÄHRUNG/NUTRITION (1994)
  • Wikipedia: Ernährungspyramide (abgerufen am 28. September.2020)

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